Eisenhüttenstadt – zu Besuch in einer stark gealterten Vorzeigestadt

10. Oktober 2018

Von Egbert Steinke

Das ostbrandenburgische Eisenhüttenstadt an der Oder entstand erst in den 1950er Jahren. Es gab zwar schon seit rund 600 Jahren die Orte Fürstenberg an der Oder und das Dorf Schönfließ in der Nähe des großen Zisterzienserstiftes Neuzelle. Aber zu Zeiten der DDR begann die Entwicklung einer Stadt in dieser Gegend völlig neu. Knapp 30 Kolleginnen und Kollegen aus dem DJV Berlin fuhren am 26. September 2018 mit dem Bus in die einstige “sozialistische Vorzeigestadt” und besuchten das Hüttenwerk ArcelorMittal (früher Eisenhüttenkombinat Ost) an der polnischen Grenze. Eine Zeitreise.

Die sowjetische Besatzungszone hatte nach dem Zweiten Weltkrieg keine nennenswerte Stahlproduktion. Gesucht wurde ein günstiger Standort mit Straßen-, Schienen- und Wasseranschluss. Außerdem sollten dort auch Arbeitsplätze für die zahlreichen Vertriebenen und Flüchtlinge aus dem deutschen Osten entstehen können. Hinzu kamen strategische Rücksichten der Sowjetunion, relativ weit entfernt von den Stützpunkten der US-Streitkräfte in West- und Süddeutschland zu bauen. Walter Ulbricht setzte dann auf Drängen Moskaus den Standort Fürstenberg an der Oder durch. Dieser lag am Oder-Spree-Kanal und hatte einen Oderhafen. Mit der Errichtung des Eisenhüttenkombinats EKO im Bereich kleinerer, von der Sowjetunion nach Kriegsende demontierter Chemie- Industrieanlagen gab es sogar einen konkreten Startpunkt für die Planer. Nun musste außerdem eine entsprechende Wohnstadt für die Arbeitskräfte her.

Solche Stadtgründungen gab es im damaligen Ostblock mehrfach z.B. In Nowa Huta (zeitweilig unter dem Namen Stalinogród ) als Hüttenstadt außerhalb von Krakau - heute ein lebhafter Krakauer Stadtteil mit 220 000 Einwohnern - oder im neugegründeten Hüttenwerk Dunapentele an der Donau südlich von Budapest - von 1951-1956 Sztálinváros benannt, seither Dunaujváros mit über 50 000 Einwohnern.

Die DDR beschloss den Bau des Eisenhüttenkombinats Ost im Juli 1950 und begann zugleich mit dem Aufbau der Wohnstadt in Fürstenberg an der Oder. Nach der Fertigstellung des ersten Wohnkomplexes 1953 erhielt der Ort den Namen Stalinstadt. Im Zuge der späteren Entstalinisierung und der Eingliederung von Fürstenberg und Schönfließ hieß die Stadt seit 1961 dann Eisenhüttenstadt.

Dem heutigen Besucher fällt auf, dass die unmittelbare Lage an der polnischen Grenze seit vielen Jahrzehnten nicht genutzt wird. Die seit dem Kriegsende 1945 von den Deutschen gesprengte Fürstenberger Autobrücke über die Oder, einst eine verkehrsstarke Verbindung nach Niederschlesien, ragt noch heute als Ruine aus dem Fluss. Einen Fährverkehr zum Nachbarn Polen gibt es nur gelegentlich bei Stadtfesten.

Die Berliner Kollegengruppe wanderte mit Dr. Frank Howest, der im Eisenhüttenstädter Rathaus für Stadtentwicklung, Stadtumbau sowie Stadt- und Verkehrsplanung verantwortlich ist, mit detailreichen Einblicken durch die vier Wohnkomplexe in Eisenhüttenstadt. Howest hat an der Ruhruniversität Bochum über den DDR- Städtebau promoviert und lebt selbst seit 23 Jahren mit seiner Familie in der Stadt. Er schilderte beim Stadtrundgang den dramatischen Wandel, den Eisenhüttenstadt in den letzten Jahrzehnten durchmachte. Dazu zählte vor allem die starker Abwanderung der jüngeren Bürger, der Leerstand in den Wohnungen, die unverhoffte Motorisierungswelle, der Abzug von Einzelhandelsgeschäften aufs flache Land und generell die ökonomischen Sogwirkung von Berlin und Frankfurt/Oder. Hinzukam der Umbau und mehrfache Eigentümerwechsel der heute wieder mächtigen und hoch technisierten Hüttenwerke, die das Roheisenwerk, das Stahlwerk, die Warmwalzstraße und das Kaltwalzwerk umfassen mit zusammen rund 2.500 Beschäftigten.

Der Ort war in den fünfziger Jahren ursprünglich für 30 000 Einwohner als einer Idealstadt entworfen worden, in der sich Arbeit und Wohnkomfort mit sozialer Lebensqualität und mit öffentlichen Grünanlagen, einem Theater , Durchgängen und Passagen abwechslungsreich mischen sollten. Zur Wendezeit im Jahre 1989 wohnten rund 53 000 Menschen dort. Seither verlor Eisenhüttenstadt ständig Einwohner. Im Jahre 2017 ist die Zahl der Einwohner erstmals auf unter 27 000 gefallen. Der Ausländeranteil liegt gegenwärtig bei 8 % . Wohnraum ist an vielen Stellen vorhanden und berufliche Chancen bietet der vielfältige Stahlstandort auch. Trotzdem dominiert eine schläfrige Ruhe die Stadt.

Die Lebensverhältnisse der Bürger haben sich seit dem Bau der Planstadt tiefgreifend verändert. Einst war Kurt W. Leucht (1913-2001) leitender Architekt im Planungsteam. Der Dresdener Bauprofessor wirkte an vielen Großbaustellen der DDR, auch bei den Bauwerken der Berliner Stalinallee und der neuen Prager Straße in Dresden mit. Später war er politisch in Ungnade gefallen.

Heute ist ein Rundgang durch die vier Wohnkomplexe von Eisenhüttenstadt wie ein Ausflug in die Vergangenheit vor 60 Jahren. Leere Weite, breite Sichtachsen, Aufmarschplätze an der Hauptmagistrale Lindenstraße, Mosaike, bildnerische Kunstwerke, Giebelwände mit freundlichen Bildern von “Staatskünstlern” wie Walter Womacka, klassische Bauformen und ein wenig Bauhausstil. Ein Museum im ehemaligen großen Kindergarten zeigt den einstigen Alltag in der DDR.

Die Berliner DJVler machten ihre Mittagspause stilgerecht in der Ex-Großgaststätte “Aktivist”, die noch heute so heißt, aber sich räumlich nur auf die einstige Bierschwemme beschränkt. Der Rest des Gebäudes ist Sitz der lokalen Wohnungsbaugenossenschaft.

Schlüsselwerk EKO fand Anschluss im Weltmarkt

Eisenhüttenstadts industrielles Herz ist heute international bedeutend. Es bietet viele Chancen für Techniker, Kaufleute und zahlreiche Ausbildungsbereiche. 1990 wurde das Unternehmen in EKO Stahl AG umfirmiert und 1994 von der Treuhandanstalt an den belgischen Stahl- und Maschinenbaukonzern Cockerill-Sambre verkauft. Das seitdem als EKO Stahl GmbH geführte Unternehmen wurde mit Zustimmung der Europäischen Kommission auch mit öffentlichen Mitteln umfassend modernisiert und erhielt ein riesiges Warmbreitbandwalzwerk. Seitdem konzentriert sich EKO bzw. Arcor Mittal auf Flachstahl insbesondere für Autohersteller und die Bauindustrie. Seit 2002 gehört die EKO Stahl GmbH gemeinsam mit seinem damaligen belgischen Mutterkonzern zur Arcelor-Gruppe. Seit der Fusion von Arcelor mit der britisch-indischen Mittal Stahlgruppe im Jahre 2006 rechnet das Unternehmen ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH zur mächtigsten Stahlfamilie der Welt.

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